XXIV/1: het eerste transport van Westerbork naar Theresienstadt, 20-21 april 1943 (Duitstalig)
XXIV/1: the first transport from Westerbork to Theresienstadt, 20-21 April 1943 (in German)
XXIV/1: het eerste transport van Westerbork naar Theresienstadt, 20-21 april 1943 (Duitstalig)
XXIV/1: the first transport from Westerbork to Theresienstadt, 20-21 April 1943 (in German)
DIE GESCHICHTE EINER POSTKARTE
John Löwenhardt mit Magdalena Strugholz
Wie der Golem aus Lehm, so wurde sie geschaffen aus einer weichen grauen Pappe.
Die Maschine im Stadtzentrum Haarlems formte daraus einen dünnen Karton. Der Karton wurde bedruckt und geschnitten. Und so fing Sommer 1941 ihr Leben an, die „Geuzendam Nr. 271“ Postkarte mit dem 5 Cent „Labeau“ Marke, hergestellt von der Firma Joh. Enschedé und Söhne im Auftrag der niederländischen Post. Die Firma wurde 1703 von Izaak Enschedé gegründet und ist noch immer zu einem großen Teil in der Hand der Familie. Seit Anfang des 19. Jahrhundert druckt sie Wertpapiere, Banknoten, Aktien – und die Briefmarken und Postkarten der niederländischen Post.
Der Golem spricht nie, die Postkarte redet aber immer noch zu uns. Sie kam in ein Postamt, wurde verkauft und später beschrieben. Dann wurde die Karte im April 1943 verschickt zum Polizeilichen Judendurchgangslager Westerbork, gelesen und vom Empfänger aufbewahrt. Er – und die Postkarte – wurden von der Deportation ins Vernichtungslager verschont. Schließlich, irgendwann nach dem Krieg, hat der Empfänger die Postkarte zur Aufbewahrung in das NIOD-Archiv an der Herengracht in Amsterdam gegeben. Dort ist die Postkarte noch immer. Dort wird Sie bleiben.
Wieso die Geschichte dieser Postkarte? Was ist besonderes an ihr? Warum soll Sie aufbewahrt bleiben?
Der Autor versucht seine jüdische Verwandtschaft wiederherzustellen. Die Mitverfasserin hilft ihm dabei. In der zweiten Dekade des 21. Jahrhundert ein fast unmögliches Vorhaben, da ja fast alle Augenzeugen verstorben sind. Und da es leider sehr wenig Zeitdokumente gibt. Die meisten der Vorfahren waren Metzger oder Viehhändler – oder beides. Entweder Sie schrieben wenig oder Ihre Briefe und Tagebücher sind verloren gegangen. Beides ist möglich. Jedenfalls wird jedes Fetzchen Papier gehegt. Und so ist eine Postkarte, beschrieben von den ermordeten Großeltern, eine Kostbarkeit.
Wie ist die Postkarte zu meinem Großeltern gekommen? Es ist unmöglich, dass sie sie im Westerborker Lagergeschäft gekauft haben – das Geschäft wurde erst am Sonntag 20. Februar 1944 eröffnet, so zeugt Philip Mechanicus in seinem Tagebuch In Dépot.
Adolf und Julia Löwenhardt wurden nach einem Aufenthalt von sechs Monaten am 20. April 1943 von Westerbork nach Theresienstadt „abgeschoben“. Möglich ist, dass sie sie anderswo in Westerbork erworben haben, wahrscheinlicher ist jedoch, dass sie die Karte später kauften oder bekamen.
Der Transport am 20. April 1943 war ein ganz besonderer, und nicht nur aus einem Grund. Nummer XXIV/1 war der erste Transport von Westerbork nach Theresienstadt. Ein-hundert-fünf-und-neunzig Deutsch/Österreich-jüdische Veteranen aus dem 1. Weltkrieg waren für die Reise zum Vorbildsghetto in Böhmen ausgewählt worden. Es waren 101 Männer, 79 Frauen und 15 Kinder bis zum Alter von 14 Jahren. Adolf und Julias in Dortmund-Lindenhorst geborener Sohn Werner gehörte nicht dazu. Er war 23 Jahre alt und hatte sich Dank seines Zeichentalents in der Lagerverwaltung eine Stelle erworben. Beim Abschied musste er seiner Mutter versprechen nie, nie, niemals freiwillig die Niederlande zu verlassen. Freiwillig war jedoch wenig in dieser Zeit...
Die 195 Juden stiegen früh an diesem Morgen in einen gewöhnlichen Personenzug – auch das war außerordentlich. Die „Musterjuden“ – viele der Männer mit Kriegsauszeichnungen Ehrenkreuz 1. oder 2. Klasse (so mein Großvater Adolf) – fuhren ja in die bevorzugte Judenstadt, für sie war nichts zu befürchten. Nicht so die, die später am selben Tag zum Vernichtungslager Sobibor nach Polen abtransportiert werden sollten. In der Nacht als die zwei Transportlisten bekannt gegeben wurden, hatten Adolf, Julia und Werner erfahren dass ihr ehemaliger Lindenhorster Nachbar, Verwandter und Freund Walter Kleeblatt zum Transport nach Sobibor eingeteilt wurde. Jetzt wissen wir dass Walter am 23. April in Sobibor durch Vergasung starb.
Die „Theresienstadt Liste“ XXIV/1 war von Adolf Eichmann persönlich begutachtet worden. Über den Zug lässt sich noch folgendes sagen: Im Archiv fand ich ein Fernschreiben von SS-Sturmbannführer Zoepf in Den Haag. Es braucht keine weitere Erläuterung.
BdS. –IV B 4– B.Nr. Den Haag, den 15.4.1943
Fernschreiben Dringend, sofort vorlegen!
An das Reichssicherheitshauptamt
– Referat IV B 4 –
Berlin
Weisungsgemäss wurde von hier Verbindung mit der Transportkommandantur Utrecht aufgenommen, so dass auf Grund der getroffenen Vorbereitungen die vorgesehenen wagen am 21.4.43 von Amsterdam nach Theresienstadt abgehen werden. Allerdings schlägt der hiesige Bahnkommandantur vor, die Juden in Personenwagen zu befördern, da sie dann einem normalen Zug angegliedert und in normalem Tempo gefahren werden könnten, so dass es nicht nötig wäre, den Zug mehrere Tage unterwegs zu lassen. Die Beförderung in Personenwagen läge auch im Sinne des Herrn Reichskommissars, nachdem mit ihm auf Grund der seinerzeitigen Vorschläge von SS-Obersturmbannführer Eichmann (Abreise truppweise in fahrplanmässigen Zügen) die Umsiedlung im Personenzug besprochen wurde. Ausserdem legt der Herr Reichskommissar gerade in den Niederlanden und bei diesem Zug Wert auf eine gewisse Propagandawirkung, da es sich um eine „Wohnsitzverlegung“ handelt und der Zug nicht aus dem Lager, sondern von Amsterdm abfährt.
Da die Transportkommandantur angab, zur Stellung von Personenwagen in der Lage zu sein und hierfür lediglich eine formale Genehmigung von Berlin zu bedürfen, wird um Genehmigung der Abbeförderung in Personenwagen gebeten.
BdS. Den Haag – IV B 4 –
I.A. gez. Z o e p f
SS-Sturmbannführer
Diese letzte Besonderheit des Transports XXIV/1 hat auch meine Großeltern überrascht. Der Zug fuhr nicht direkt nach Osten... er fuhr nach Amsterdam. Adolf und Julia – Juulchen wurde sie genannt, Juulke in ihrem Heimatdorf Denekamp – trafen am frühen Mittag in Amsterdam ein. Mit den 193 anderen wurden sie zur Amsterdamer Judensammelstelle transportiert, das „Holländische Schauspielhaus“, Hollandsche Schouwburg, am Plantage Middenlaan. Am Abend schrieb mein Großvater auf der Postkarte seinem in Westerbork zurück gebliebenen Sohn was geschehen war:
‘Lieber Werner!
Du wirst staunen, nachdem wir in der Schauburg gegen 2 Uhr noch Formalitäten erledigt hatten, durften wir alle frei in die Stadt. Wie Du von meiner Adr. siehst sind wir bei dem lieben Onkel Hermann und Tante Lina. Die Freude kannst Du Dir denken. War mit Onkel Hermann spazieren. Die Fahrt ist auch für die liebe Mutter gut verlaufen und sind wir gutter Dinge, morgen früh um 8 Uhr müssen wir wieder in der Schauburg sein. Lieber Werner bleibe gesund und stark, was wir auch sein wollen. Lebe wohl auf ein glückliches Wiedersehen in [?] Grüsse und Küsse Vater.’
‘Mein Lieber Werner
Du kannst dir denken wie glücklich wir waren das wir heute den ganzen Nachmittag frei haben bis Morgen früh 7 Uhr. Ihr könnt euch denken, was wir alle zu erzählen haben. Nun lebe Wohl auf Wiedersehen es grüßt dich herzlich [mutter]’
Seitlich steht geschrieben:
‘Die herzlichsten Grüße für Dich mein l. Werner deiner Tante Lina’ und: ‘Recht herzliche Grüsse für Euch beide von Eurer Elsbeth’.
Schicksalsgemäß – das ist wohl das Wort das diese Postkarte kennzeichnet. Die Ehepaare Hermann – Lina Kleeblatt und Adolf – Juulchen Löwenhardt wohnten bis Mitte der 30er Jahre an der Dortmunder Lindenhorster Straße nebeneinander. Hermann und Lina betrieben ein Geschäft mit Kolonialwaren, Haushaltsartikeln und „Arbeitsgarderobe“, Adolf und Julia eine Metzgerei. Adolf mietete seine Wohnung und den Laden von Hermann. Beide bedienten die deutsche und polnische Arbeiterschaft der Zeche Fürst Hardenberg. Hermann und Lina hatten drei Söhne, Adolf und Julia zwei. Im Oktober 1901 war Walter Kleeblatt geboren, im Juli 1903 sein Bruder Artur und am 13. Juli 1906 Richard. Der Vater des Autors, Heinz Löwenhardt, wurde August 1913 an der Lindenhorster Straße geboren, dessen Bruder Werner im November 1919.
Aber ihre Schicksalsverbundenheit war tiefer. Hermann war der Onkel von Juulchen. Hannchen ten Brink-Kleeblatt, ihre Mutter, hatte sie um 1908 vom Geburtsort Denekamp in den Niederlanden zu ihrem Bruder in Dortmund geschickt um mit den drei Jungen auszuhelfen. Dort lernte Julia ten Brink ihren künftigen Ehemann Adolf Löwenhardt kennen.
Beide Familien waren nach Holland geflüchtet, die Löwenhardts im Sommer 1936 zuerst. Nur wenige Wochen bevor Adolf, Werner und Julia im Lager Westerbork eintrafen – Oktober 1942 – waren Artur und seine Frau Rosi schon in Auschwitz ermordet worden. Hermann und Lina wohnten in Amsterdam an der Den Texstraat 39. Sie hatten sich wohl länger als die Söhne den Verhaftungen entzogen. Walter ist zu unbekannter Zeit in Westerbork eingeliefert worden. Wie es Richard Kleeblatt gelungen ist die Nazibarbarei zu überleben, ist ungeklärt.
Vom Hollandsche Schouwburg zur Den Texstraat ist es nicht weit. Zu Fuß 21 Minuten, 1,7 Kilometer. Mit Gepäck wird es für Adolf und Julia, damals 59 und 52 Jahre alt, wohl etwas länger gewesen sein. Sie hatten die Adresse bestimmt von Walter bekommen, und machten sich auf den Weg. Von der Plantage Middenlaan rechts in die Plantage Kerklaan, dann über die Brücke und schräg rechts in die enge Kerkstraat. Halbwegs in dieser Straße überqueren sie den Amstel Fluß auf der „Magere Brug“. Wenn das Wetter an diesem Dienstag nicht zu schlecht gewesen ist, haben sie angehalten, mitten auf der „Magere Brug“, um die Aussicht zu genießen. Ein Stück weiter, die zweite Straße links ist die wunderschöne Reguliersgracht. Und nach wenigen hundert Metern rechts die Den Texstraat.
Bei Nummer 39 klingeln sie.
„Die Freude kannst Du Dir denken“, so hat mein Großvater geschrieben. Lina und Hermann werden total überrascht gewesen sein. Es ist fast nichts bekannt über das tägliche Leben dieser zwei verwandten Nachbarfamilien in der Vorkriegszeit, aber diese Szene kann man sich sogar im 21. Jahrhundert leicht vorstellen. Es wurde geredet, erzählt, geweint vielleicht – über das was geschehen war, seit der Flucht aus Dortmund (Adolf und Julia lebten in Goor und Enschede), über den Sohn Heinz, der wohl mit seiner holländischen Verlobten untergetaucht war, von Arthur und seiner Frau, die zu den ersten gehörten die „nach Osten“ abtransportiert worden waren und dort – wie man damals dachte, hoffte – schwere Arbeit leisteten. Und es wurde natürlich auch gefragt wie es denn Walter erginge, der ja noch in Westerbork war.
Ob Julia sich Amsterdam noch angesehen hat, ist zweifelhaft. Es sieht so aus, dass die Männer spazieren gingen und die Frauen zuhause blieben. Es wurde bis tief in die Nacht geredet.
Bevor man zu Bett ging haben Adolf und Julia die Postkarte beschrieben.
Diese eine Nacht war zwischen „ein halbes Jahr Westerbork“ und „anderthalb Jahren Theresienstadt“ die einzige Nacht, die sie in Freiheit geschlafen haben.
Freiheit? Oder „Freiheit“? Sie hatten eine Wahl. Aber ich denke dass von untertauchen nicht die Rede war. Werner war die Geisel in Westerbork. Sie wussten dass sie ihn gefährden würden, sollten sie sich am nächsten Morgen nicht zum Transport melden. Lagerkommandant Gemmeker würde ihn in diesem Fall am nächsten Tag nach Auschwitz abtransportieren lassen.
Am Morgen des 21. April meldeten Adolf und Julia sich zum Transport nach Theresienstadt. Auf dem Weg zum Holländischen Schauspielhaus haben sie vielleicht die Postkarte in einen Amsterdamer Briefkasten geworfen. In der „Schauburg“ wurde die Gruppe der Deportierten um weitere Hundert ergänzt, darunter eine kleine Gruppe holländischer Juden, die bis Oktober 1938 der Nationalsozialistischen Partei NSB angehört hatten. Die Historikerin Anna Hájková berichtet dass die 295 von Lastwagen zum Verladebahnhof Panamakade gebracht wurden und dort in Personenwagen zweiter und dritter Klasse stiegen. Bestimmungsort Theresienstadt. Adolf und Julia saßen 3. Klasse. Nur für die Schwerverletzten war am Ende des Zuges ein 2. Klassewagen angehängt.
Adolf Löwenhardt schrieb seinem Sohn Werner am 21. April zwei weitere Postkarten, eine früh am Morgen bevor er und Juulchen sich auf den Weg machten zur Sammelstelle, der zweite um genau 3:45 im Nachmittag als der Zug hielt im Bahnhof Arnhem, kurz vor der niederländisch-deutschen Grenze.
Mein lieber Werner,
3.45 Gerade fuhren wir in Arnheim ein. Wir haben in Amsterdam schöne Stunden erlebt. Heute morgen 7. Uhr haben wir Abschied von Kleeblatts genommen. Es war nicht so einfach. Wie ist es mit dem l. Walter, ist er weggegangen der arme Kerl. Die Eltern wissen es noch nicht. Haben sie wohl vorbereitet. Werden es früh genug gewahr.
In wenigen Minuten verlassen wir das schöne Holland...
Man ahnte viel Schreckliches, von dem was im „Osten“ geschah. Aber niemand wusste etwas genaues. Jules Schelvis war einer der wenigen Überlebenden von Sobibor, 2011 war er Mitankläger im Demyanyuk-Prozess in München. Er hatte seine Gitarre nach Sobibor mitgenommen. In einem Interview sagte Schelvis 2011
Ich dachte: wir fahren nach Deutschland zur Arbeit. Wer weiß, vielleicht können wir am Abend beim Lagerfeuer gesellig Lieder singen. Wie naiv kann man sein?
Adolf und Julia trauten sich nicht Hermann und Lina zu erzählen dass Sohn Walter in dieser Nacht wahrscheinlich – sicher wussten sie es ja nicht – auf dem Weg nach Sobibor war. Er war auf der Transportliste, ihr eigener Zug war aber zuerst abgefahren.
Lina Kleeblatt starb am 28. Dezember 1943 im Durchgangslager Westerbork und wurde am nächsten Tag dort eingeäschert. Ihr Mann Hermann starb am 12. September 1944 in Bergen-Belsen. Der Tag an dem meine Großeltern in Theresienstadt in den Viehwagon gezwungen wurden hatte mein Großvater Adolf Geburtstag: er wurde 61 Jahre alt. Das war der 9. Oktober 1944. Zwei Tage später waren sie tot, vergast in Auschwitz-Birkenau.
Die Postkarte aber, die ist immer noch da.
Quellen
NIOD – Instituut voor Oorlogs- Holocaust- en Genocidestudies, Amsterdam. Archiv 250i – Westerbork, Judendurchgangslager
Anna Hajková, ‘Die Juden aus den Niederlanden in Theresienstadt’, in Jaroslava Milotová, Ulf Rathgeber und Gabriela Kalinová (Hrsg.), Theresienstädter Studien und Dokumente 2002. Praag, Institut Terezinské Iniciativy, 2002, 135-201
Werner Löwenhardt, Ik houd niet van reizen in oorlogstijd. Familiealbum 1919-1945. Alkmaar, René de Milliano, 2004
J. Presser, Ondergang. De vervolging en verdelging van het Nederlandse jodendom 1940-1945. 2 delen. Den Haag, Staatsuitgeverij 1985
Jules Schelvis in Haarlems Dagblad, 30. April 2011