Die Niederlande haben im Leben von Waldemar Freundlich (*1879) eine große Rolle gespielt-: 1901 wurde er, 21 Jahre alt, für 5 Jahre als Leiter (Disponent) der dortigen Niederlassung eines Hamburger Handelshaus (Edm.Sielken) nach Indonesien geschickt. Sein Vater Emil, ein angesehener und wohlhabender Geschäftsmann in Stolp/Pommern (Stadtrat und Spediteur, Landprodukten-handel, eigene Landwirtschaft)- hatte ihn mit 16 Jahren aus der Gymnasialzeit heraus als Volontär in den Kaufmannsberuf geschickt, vermutlich nach Hamburg (zusammen mit dem wenig älteren Bruder Otto, der aber nach 1901 eine Künstler-Karriere begann).
Auf der Rückreise von Batavia spät im Jahr 1905 nach Genua machte er einen Abstecher nach Florenz, traf dort seinen Bruder Otto. Hier im Hotel begegnete ihm die Pädagogikprofessorin Marie Dugard (1862-1932?) aus Paris, welche ihm seitdem als mütterliche Freundin Bücher widmete und Briefe schrieb, bis etwa 1928, eine „femme de lettres“. In einem dieser Briefe lobt sie 1907 außer seinen Französisch-Sprachkenntnissen auch seine kaufmännische Umsicht – sie geht detailliert darauf ein, wie selbstlos er Kollegen und Geschäftsfreunden hilft und wie beliebt er in Hamburger Kaufmannskreisen ist. Zur gleichen Zeit, etwa bis 1914, pflegte er in Hamburg Gesellschaft und Freundschaft mit Künstlern und Literaten, und 1912 erscheint ein Roman von einem Erfolgsschriftsteller, gewidmet an Waldemar Freundlich, Hamburger Kaufmann; offenbar ein „Schlüsselroman“ zur Freundschaft der beiden.
1914 reist Waldemar F. geschäftlich nach Indonesien, diesmal zusammen mit seiner junge Frau (*ca. 1890) und Söhnchen (*ca. 1912). Niemand konnte wissen, dass er bis 1921 dort nicht wieder fort konnte-: Er wurde im August 1914 als waffenfähiger Deutscher in Niederländisch Indonesien interniert. Er behielt jedoch Freiheit und alle Rechte (Holland war neutral) und war uneingeschränkt kaufmännisch, auch wirtschaftswissenschaftlich, tätig. In seinen indonesischen Jahren (1901/1905 und 1914/1921) hatte er natürlich engen gesellschaftlichen Umgang mit vielen Prominenten der holländischen Gesellschaft. Seitdem war er mit vielen niederländischen Politikern, Gelehrten, Akademikern bekannt und befreundet, ähnlich zahlreich wie mit entsprechenden Deutschen, zumal er fließend niederländisch, englisch, französisch sprach, auch malaiisch und sogar etwas chinesisch, wie er uns Kindern lustig erzählte.
In diesen Jahren beschäftigte er sich unternehmerisch (hierbei freundschaftlich beraten durch Dr. Mohr über „feuerfeste Tone“) und auch wissenschaftlich mit nationalökonomischen Fragen. Aus diesen Arbeiten entstand- mit freundschaftlicher Hilfe des holländischen Politikers und Ingenieurs, Jhr. J.C. van Reigersberg-Versluys (1870-1934) – eine Studie über industrielle Entwicklungspolitik-: Waldemar Freundlich, „Nijverheid in Britisch-Indie“, Batavia (Vereeniging voor Studie van Koloniaal- Maatschappelijke vraagstukken, publicatie nr. 5) 1918, 254 Paginas. Während er durch seine Tätigkeit in diesen Jahren reich wurde, scheiterte seine Ehe, denn seine junge Frau stammte aus der Region Tondern, die zwischen Dänemark und Deutschland strittig war. Sie konnte problemlos mit dem kleinen Kind nach Europa reisen , den das Dänische Generalkonsulat in Java stellte ihr einen dänischen Pass. Nachdem er 1921 wieder nach Deutschland kam, trennte sich die Beziehung, wurde geschieden, wieder verheiratet 1926 mit meiner Mutter Ilse Seehausen… Die Jahre 1926-1938 sahen in Hamburg-Blankenese eine glückliche junge Ehe mit zwei gut gedeihenden Kinderchen. Er war ein sehr liebevoller Vater, wir haben ihn seit 1938 immer sehr vermisst.
Die Krise nach 1929 brachte Waldemar F. geschäftlich derart hohe Verluste, dass er sein großes Hamburger Gesellschaft auflösen musste; gegen 1936 hatte er alle Verbindlichkeiten getreulich befriedigt. Aber unversehens geriet er nach 1937 in akute Gefahr, mitsamt seiner Familie durch den Rassismus der Nazidiktatur ruiniert zu werden.
In Frühsommer 1938 klopfte das Glück an seine Tür, als Dr. Julius Mohr (1873-1970), Professor an der Universität Utrecht, wohnhaft in Amsterdam, einen freundschaftlichen Brief an ihn schrieb (nur adressiert „Waldemar Freundlich, HAMBURG“ - kam im Vorort Blankenese, in unserem Haus, richtig an), in dem er ihm vorschlug – angesichts der bevorstehenden Pensionierung -, für gut ein Jahr nach Amsterdam zu ziehen (Wohnung und Kosten frei). Er nahm doch an, dass sein Freund Waldemar ebenfalls vor der eigenen Pensionierung stand, und präsentierte seinen Vorschlag-: Er denke daran, sein Buch (Tropische Bodenkunde) zu übersetzen und erinnerte sich an das umtriebige Sprachgenie aus Hamburg, als er ihm vorschlug, diese Aufgabe freundschaftlich-gemeinsam vorzunehmen. Das wurde, wie beide Seiten es familiär-freundschaftlich akzeptierten, Waldemars Start ins „Exil“, denn beide Seiten sahen doch wohl, dass der Hitler-Unsinn nicht sehr lange weitergehen würde, inzwischen konnte etwas so Vernünftiges entstehen. Also kaufte er eine Fahrkarte nach Amsterdam, erledigte die erniedrigende Ausreise-Prozedur, packte seinen großen Koffer, reiste nach Amsterdam. Seitdem hat er jeden Tag zu uns nach Hamburg einen Brief geschrieben. Er hing so sehr an seiner Familie, dass er nicht beantragte, holländischer Bürger zu werden, sondern er hielt stets guten Kontakt mit dem deutschen Konsulat in der Hoffnung, mal eine Besuchsreise zu seinen Lieben nach Hamburg zu machen.
Der Kriegsbeginn blieb bis zum Mai 1940 ohne Folgen. Schnell hatte sich durch den engen Briefverkehr eine nette Familienfreundschaft entwickelt zur Familie Mohr, zumal auch wir deren Verwandten in Deutschland behilflich sein konnten. Auch wurde bald in Holland eine Firma („E.W.W. Freundlich“) gegründet, um eigenes Geld zu verdienen; das Vertrauen seiner Geschäftsfreunde in aller Welt war doch unverändert. Sogar als durch eklatanten Bruch internationalen Rechts entgegen allen Verträgen und mit ungezählten Verbrechen der Hitlerstaat die neutralen Niederlanden mit Krieg überrannte, änderte sich daran zunächst nichts. Aber bald endete die enge Zusammenarbeit, weil mein Vater nicht länger in der evakuierten Küstenzone von Bloemendal wohnen dürfte. Nach Hilversum zog er, wo er ein möbiliertes Zimmer mietete. Von dort habe ich 1951 seinen großen Koffer abgeholt.
Sein Unglück wurde 1942 in der sogenannten „Wannsee Konferenz“ beschlossen. Ein Gesetz wurde gemacht, wonach allen Deutschen, welche in den kriegerisch besetzten Gebieten angetroffen wurden, die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen werden konnte; danach wurden sie als „Staatenlose“ verhaftet und ins Konzentrationslager gesperrt. Und danach zwangsdeportiert , nach Osten. Wir haben nie wieder von ihm gehört. Gerichtliche Todeserklärung in Hamburg auf 8 Mai 1945 (Kriegsende). Später: ein Brief vom Nederlandse Rode Kruis. Noch viel später: Sterbeurkunde aus Hilversum.
Quellenangaben:
Für Indonesien (1901-1905) existiert ein öffenliches Zitat von Prof. J.Heusinger in „Otto Freundlich“, Bonn (A.Macke-Haus, Schriften, Nr. 50) 2007. Seite 95, Fussnote 55. – dort auch Florenz, mit Bruder Otto.
Ueber Waldemars Vater in Stolp gibt es den Nachruf von Dr.J. Müller-Liebenwalde in der Deutschen Jägerzeitung (1921), Band 78, Heft 24, vom 22 Dez. 1921, Seiten 319-320
Der „Schlüsselroman“: Dr. iur et phil Werner v.d. Schulenburg (1881-1958), „Don Juan in Frack – Hamburg, eine Romanreihe)“, Dresden (Reissner Verlag) 1912, 280 Seiten.
Die meisten anderen Mitteilungen stammen aus alten privaten Unterlagen, darunter vieles aus den Briefen von Prof. Marie Dugard, Paris.
Meine Reise 1951 nach Hilversum war erschwert durch die zeitgemässen Schwierigkeiten, ein Visum zu erhalten, aber erleichtert durch einen Studenten-Austausch zwischen Universitäten Leiden und Hamburg 1949. Ich durfte 1951 einen Gegenbesuch machen, und der Ledener Partner-Student hatte perfekt alles erkundet und organisiert, er brachte mich auch nach Hilversum, zu den Schwerstern Dütting im Hoge Naarderweg 46, wo man mir den großen Koffer gab mit persönlichsten Dingen und viel Büchern etc. und mir auch erzählte , dass mein Vater von einem Behördenbesuch nicht zurück gekommen ist, sodass sie meinten, er sei wohl zu seiner Familie nach Hamburg gereist. Tatsächlich musste er sich wohl um diese Zeit um die Gültigkeitsdauer seinen deutschen Reisepasse bekümmern.
Andere Informationen stammen aus dem Buch „Die Endlösung“ von Geraldd Reitlinger, deutsch, Berlin (Colloqium Verlag) 1956, 698 Seiten.
Daneben habe ich aus meiner Kindheit vielerlei persönliche Erinnerungen (bis Dezember 1938) an meinen Vater und ein Typoskript (1941, 25 Seiten) mit seinen Jugenderinnerungen, welches im großen Koffer war.
Von der Redaktion veröffentlicht am 7. Mai 2017 auf der Site des Joods Monument im Namen Waldemar’s Sohn Dr. Jürgen Freundlich, Sudetenweg 5 D-50858 Köln.