Verhaal

Biographie Bella Löbenstein

Autor Thomas Beck

Bella Löbenstein erblickt am 23. September 1914 in Datterode, Altkreis Eschwege, Provinz Hessen-Nassau (heute: Gemeinde Ringgau, Werra-Meißner-Kreis, Bundesland Hessen) als erstes Kind des Baruch Löbenstein und dessen Ehefrau Helene, geborene Gottlieb, das Licht der Welt. Handelskaufmann Baruch Löbenstein (*14.09.1881 in Datterode), Spross der alteingesessenen Familie Löbenstein, die sich in Datterode bereits Ende des 17. Jahrhunderts nachweisen lässt, heiratet am 25. Juli 1912 in Fulda Helene Gottlieb (*11.01.1890 in Schlitz). Am 23. September 1914 kommt mit Tochter Bella das erste Kind zur Welt. Die Familie lebt zunächst in Datterode, Haus Nr. 31[1], das Baruch Löbenstein 1912 ebenso gebaut hat, wie das nebenan stehende Lagerhaus für den von ihm betriebenen Getreidehandel („Gebrüder Löbenstein“). Beide Gebäude stehen bis heute. Ihre Schwester Margot wird dort am 6. August 1923 geboren. 1928 erwirbt Baruch Löbenstein in Eschwege Haus und Grundstück Friedrich-Wilhelm-Str. 14, wohin die Familie am 15. Februar 1929[2] verzieht. Das Haus besteht aus sechs Zimmern mit dem Ladenlokal im Erdgeschoss. Dort setzt Baruch Löbenstein als Inhaber der Firma Löbenstein & Co. den Getreidehandel fort, der im Jahre 1933 um den Handel mit Textilien (Einzelhandel) erweitert wird[3].

Bella Löbenstein wird am 19. April 1920 in Datterode eingeschult und laut Eintragung im Schülerverzeichnis nach Ende des vierten Schuljahres 1924 an das Lyzeum in Fulda überwiesen[4]. Bella besucht nach dem Abitur in Fulda von Oktober 1933 bis April 1935 in Straßburg die Näh- und Zuschneiderschule. Sie kehrt am 1. April 1935 aus Frankreich zurück, hat aber den per Erlass vom 9. März 1935 festgelegten Stichtag (28. Januar 1935) zur Rückkehr von jüdischen Deutschen aus dem Ausland versäumt. Sie wird auf Veranlassung der Gestapo Kassel am 6. Juli 1935 in „Schutzhaft“ genommen und am 10. Juli 1935 in das sog. „Schulungslager“ Moringen (Kreis Northeim) überführt[5]. Dort erhält sie von ihrem Vater einmal Besuch. Der Besuch einer Tante (die später zur Familie nach Eschwege ziehen wird) wird vom „Leiter des Schulungszentrums“ abgelehnt[6]. Bella wird auf Anordnung der Gestapo am 8. September 1935 aus dem Lager zur Familie nach Eschwege entlassen. Sie muss - so lässt sich aus Akten ableiten - einen Verpflichtungsschein unterschrieben haben, der ihre Ausreise zum Ziel hat.

Ihre Schwester Margot, die den Holocaust überlebt und durch Eheschließung den Namen Mezger erhält, erinnert sich, dass ihre Schwester die Wahl hatte, sechs Monate in dem Schulungslager zu bleiben, um dauerhaft wieder in Deutschland zu leben, oder innerhalb von 10 Tagen Deutschland zu verlassen[7]. Bella erhält eine Anstellung in Amsterdam. Die Abmeldung bei der Stadt Eschwege ist datiert auf den 15. September 1935, Ziel: Enschede[8]. Sie wird in der Folge Haushälterin bei der jüdisch-deutschen Familie Wilhelm und Julia Magnus mit den Kindern Carla und Gerd in der Krammerstraße 20/II, Amsterdam[9]. Margot Mezger weiß von vier Kindern der Familie und dass die Familie den Holocaust überlebt hätte. Dafür ließen sich bisher jedoch keine Belege finden. Nach Margots Erzählung will die Familie die Schwester Bella mit in den „Untergrund“ nehmen, was diese aber in der Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Eltern und Schwester ablehnt[10]. Nach der Besetzung Hollands ist Bella bei den ersten jüdischen Menschen, die festgenommen und im zweiten Transport vom „Durchgangslager Westerbork“ nach Auschwitz-Birkenau in das Vernichtungslager deportiert und dort bei Ankunft (mit Deportierten des ersten Transports aus Westerbork) ermordet werden. Ihr letzter Brief[11] an Eltern und Schwester wird von Margot gehütet wie ein Augapfel und blieb erhalten. Darin schreibt sie:


A‘[mster]dam, 16. Juli 1942

Meine lieben Eltern, mein liebes Margotlein!

Dass ich vor kurzem den ersten Bericht über Euer Wohlergehen bekommen habe, ist mir eine große Beruhigung. Denn ich stehe im Begriff, mein Domizil zu verändern, und es wird wohl einige Zeit dauern, bis wir wieder einander erreichbar sind. Ich bin nämlich zum Arbeitsdienst nach Deutschland aufgerufen und werde in einer knappen Stunde aufbrechen. Ich bin guten Mutes und mein Hauptwunsch ist, dass wir uns bald einmal wiedersehen. Da es jedoch möglich ist, dass Ihr früher als ich im Stande sein werdet die Verbindung untereinander wieder herzustellen so schreibe ich Euch diesen Brief, der also ein Abschiedsbrief für unbestimmte Zeit ist. Möge Gott Euch mir inzwischen gesund erhalten!

In Liebe Eure Bella

 

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Zum Schicksal der Eltern und ihrer Schwester Margot verweist der Verfasser u. a. auf seine Veröffentlichung im Jahr 2020 erschienenen Buch „Mein Schicksal ist nur eins von Abertausenden – Der Todesmarsch von Hamburg nach Kiel 1945 – Neun Biografien“, Dietlind Kautzky/Thomas Käpernick (Hrsg.), VSA-Verlag, Hamburg, ISBN 978-3-96488-064-2 (Englisch Ausgabe ISBN 978-3-96488-091-8).

 

 

 

[1] Karl Beck in „850 Jahre Datterode“, Der Festausschuss (Hrsg.), S. 292

[2] Karl Kollmann/York-Egbert König, Namen und Schicksale jüdischer Opfer des Nationalsozialismus aus Eschwege – Ein Gedenkbuch, Nicolas-Benzin-Stiftung, Frankfurt am Main 2012

[3] HHStAW, 518, 92705

[4] Schülerverzeichnis Volksschule Datterode 1917-1937, Nr. 84

[5] Margot Mezger - „Our Odyssey“ - Tondokument in englischer Sprache von der Familie zur Verfügung gestellt; erst kurz vor Ihrem Tod erzählte ihnen Margot über ihr und das Schicksal ihrer Familie.
„ … sie wurde nach der Festnahme in einem offenen Wagen durch die Stadt gefahren …“

[6] ITS Bad Arolsen 1.1.28.1/3125127

[7] Margot Mezger - „Our Odyssey” a. a. O.

[8] Karl Kollmann/York-Egbert König a. a. O.

[9] ITS Bad Arolsen 1.1.28.1/3125127

[10] Margot Mezger - „Our Odyssey” a. a. O.

[11] Zur Verfügung gestellt von Gabriela und Susana Mezger (Töchter von Margot Mezger), Buenos Aires, Argentinien

 

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