KURT IKENBERG BESUCHT ALTENBEKEN
Am Freitag 9. November 2012 wurde in der Sparkasse in Altenbeken eine Ausstellung eröffnet, die von einem dreijährigen, jüdischen Jungen erzählt. Dieser Junge hatte nie die Gelegenheit seine Altenbekener Großmutter Minna zu besuchen. Ihr Haus stand am Ort der heutigen Sparkasse. Kurt Ikenberg wurde im Juli 1941 im Flüchtingslager Westerbork in den Niederlanden geboren. Sein Vater Ludwig stammte aus Altenbeken. Kurt wuchs im Lager auf und wurde in September 1944 mit seinen Eltern nach Theresienstadt deportiert. Einen Monat später wurde Kurt in Auschwitz-Birkenau ermordet. Er war drei Jahre und drei Monate alt.
Vor der Sparkasse liegt seit 2007 für Kurt ein Stolperstein. Bis vor kurzem war von Kurt nichts weiteres bekannt als sein Geburts- und Sterbedatum. Im Jahr 2011 wurde jedoch die Korrespondenz entdeckt, die zwischen Kurts Mutter Klara im Lager und ihrer Schwester Friedel in Belfast, Nord-Irland, stattgefunden hatte. Diese Korrespondenz dokumentiert Kurts Aufwachsen im Lager Westerbork. Zur selben Zeit bat der Kurator dieser Ausstellung die Amsterdamer Künstlerin Marjolein Rothman ein Bild von Kurt zu schaffen. Es wurden drei Papierkollagen die seine Entwicklung zur Selbständigkeit darstellen.
Mit dieser kleinen Ausstellung besucht Kurt Ikenberg für kurze Zeit das Haus seiner Großmutter Minna und den Ort der seine Heimat gewesen wäre.
Kurt und ich gehören der selben Generation an. Beide sind wir Urenkel von Pauline Löwenhardt-Lennhoff. Sie bekam zwischen 1873 und 1892 zwölf Kinder. Das zweite Kind war Kurts Großvater Isidor Löwenhardt, das Achte mein Großvater Adolf Löwenhardt. Hätte Kurt überlebt, so wäre er jetzt 71 Jahre alt. Da aber seine Eltern und fast alle anderen Familienmitglieder in den Gaskammern ermordet wurden, gibt es keine einzige Erinnerung an ihn. Es ist, als hätte es ihn nie gegeben.
Vor etwa zwei Jahren habe ich Kurt entdeckt. Klara Löwenhardt, Isidors Tochter, und ihr Mann Ludwig Ikenberg waren drei Monate, nach dem sie in Altenbeken geheiratet hatten, im April 1939 nach Holland geflüchtet. Am Zufluchtsort wurden sie nicht freundlich aufgenommen. Zehn Monate mussten Klara und Ludwig notgedrungen voneinander getrennt leben. Im Februar 1940 wurden sie zusammen im Flüchtlingslager Westerbork interniert. Dieses Lager war im Auftrag der niederländischen Behörden in einer Einöde, unweit der deutschen Grenze, gebaut worden. Die Kosten für diesen Bau musste die jüdische Glaubensgemeinschaft aufbringen. Drei Monate später wurde das Land von den deutschen Truppen überrannt. Am 6. Juli 1941 wurde Kurt Herbert geboren. Drei Jahre und drei Monate später waren alle drei Tod.
Für mich wurde Kurts Leben zu einer virtuellen Realität. Im Archiv des niederländischen Roten Kreuzes fand ich seine Personenkarte, angefertigt von den holländischen Behörden nach seiner Geburt. Auf der Karte steht der Name seiner Eltern und in Bleistift die Anschrift seiner Großmutter in Altenbeken. Großmutter Minna Ikenberg hat wahrscheinlich nie erfahren, dass es Kurt gab. Sie wurde am 10. Dezember 1941 von Altenbeken nach Ghetto Riga deportiert. Für mich aber war die Karte der greifbare Beweis dafür, dass es Kurt tatsächlich gegeben hat. Sie war alles was ich hatte. Ohne viel Hoffnung suchte ich in Tagebüchern, Erinnerungen – fand aber keine Spur von Kurt.
Wie war er, dieser Junge? Er wuchs in dem Lager auf, durch welches fast alle holländischen Juden in den Tod geschickt wurden. Er wird die Schreie der Verzweiflung und des Terrors gehört, aber nicht verstanden haben; jeden Montagabend, wenn die Deportationslisten bekanntgemacht wurden. Das nervöse Gewimmer der Frauen, wenn sie die Säcke packten, die sie mit in den Zug nehmen wollten. Er wird den langen Viehzug gesehen haben. Leer und ruhig auf die Menschenopfer wartend – aber verstanden hat er es wohl nicht. Er wird am frühen Dienstagmorgen die stille, taube Ergebung gefühlt haben, wenn die Menschen in den Zug kletterten. Jedesmal verschlang der Zug bis zu tausend Menschen, manchmal mehr. Und jedesmal kam der Zug Tage später zurück... leer. Kurt hat nie das Alter erreicht in dem er sich an diese Erlebnisse hätte erinnern können – Erfahrungen die seinen Charakter geformt hätten. Er wurde ermordet bevor er seine Eltern hätte fragen können: Wieso? Weshalb? Warum?
Wie ist er gewesen, dieser kleine Kurt? Ich hatte nicht die Erwartung Zeugnisse zu finden. Seine Identität wird wohl für immer auf eine Karteikarte und zwei Transportlisten begrenzt bleiben, so habe ich gedacht. In Philip Mechanicus’ Westerborker Tagebuch In Dépot hatte ich über den Kinderspielplatz gelesen. Dieser wurde am 31. August 1943, also fast vier Jahre nach der Inbetriebnahme des Lagers, gebaut und eröffnet. Vier Wippen, zwei Stangen und ein Sandkasten. Am 9. September waren zwei Stangen und drei Schaukeln hinzugekommen. Kurt hatte seinen zweiten Geburtstag zwei Monate zuvor erlebt – und ich stellte mir seine Freude über diesen Spielplatz vor, auf dem er nun mit anderen Kinder spielte. Am 9. September schrieb Machanicus: „Halb zehn am Abend, heller Mond, Kinder noch beim Spiel“. Von Kurt aber nichts.
Dann entdeckte ich Friedel, Kurts Tante. Friedel – Friedericka Löwenhardt – war nach der Kristallnacht aus Deutschland geflohen, 29 Jahre alt. Während des Krieges lebte sie in Belfast, Nord-Irland. Später wurde Sie Haushälterin und Kindermädchen bei einer jüdischen Familie in London. Sie blieb unverheiratet und starb 1983 in London. In ihrer Hinterlassenschaft befand sich ein kleines Päckchen mit Briefen und Postkarten. Ein Enkelkind von Friedels Bruder Julius – letzterer war in den dreißiger Jahren nach Palästina emigriert – zeigte mir das Paket im Juli 2011, verbunden mit der Frage, ob ich es gebrauchen könne? Ich schaute hinein – und war erschüttert und begeistert. Hier war doch die Kriegskorrespondenz zwischen Friedel in Belfast und ihrer Schwester Klara, Kurts Mutter, im Lager Westerbork! Friedel hatte ich nie gekannt – aber ich war ihr sehr dankbar. Sie hatte jedenfalls das Wenige getan was man in solch’ fürchterlichen Zeiten tun kann. Mit ihrer Beharrlichkeit hatte sie ihrer Schwester im Lager gezeigt, dass sie nicht aufgegeben hatte.
Das Rote Kreuz bot während des Krieges die Möglichkeit an, mit Verwandten im besetzten Europa im Kontakt zu bleiben. Die Korrespondenzen die mir gezeigt wurden, waren 28 Rot-Kreuz-Blätter, die von beiden Seiten beschrieben waren. Auf der Vorderseite konnte der „Enquirer / Fragesteller“ einen kurzen Bericht an seine Verwandten im besetzten Gebiet schreiben. Auf die Rückseite konnte der Verwandte seine kurze Antwort schreiben. Man wusste, daß die Nachrichten der Zensur unterlagen und es durften nicht mehr als 25 Worte sein. Der größte Teil der Texte war notgedrungen formeller-ritueller Art: „Wie geht es Euch? Uns geht es gut...“. Aber in den Berichten verborgen fand man manchmal Schlüsselworte, echte Nachrichten wurden berichtet. Nachrichten, die den Zensor überhaupt nicht interessierten – aber mich um so mehr. Denn hier schrieb Klara, die Mutter, mit eigener Handschrift über „Kurtchen“ und wie er sich entwickelte. Ihr erster Bericht ist vom 11. Dezember 1941, als Kurt fünf Monate alt ist: „Kurtchen’s Entwicklung praechtig, macht grosse Freude“. Claere, so unterschrieb sie immer ihre kurzen Briefe, hat sich wohl nie vorgestellt, wie sehr mich diese sechs Wörter interessieren – siebzig Jahre später.
Plötzlich ist es mir möglich Kurts Entwicklung nach zu spüren: von seinem fünften Lebensmonat bis zu zwei Jahren und zwei Monaten. Klaras letzte Nach-richt, in denen er genannt wird, ist vom 23. Septem-ber 1943, drei Wochen nachdem der Spielplatz eröffnet wurde.
Als er sechs Monate alt ist, sagt Claere von ihrem Sohn „drollig, lacht, erzaehlt“ (2. Januar 1942). Zwei Monate später „gedeiht“ er „gut“. Er „sagt Mama, macht viel Freude“ (13. März 1942). Fast einen Monat später: „Kurtchen macht sich prächtig, sitzt, macht Stehversuche“ (9. April 1942). Und kurz vor seinem erster Geburtstag berichtet Claere am 30. Juni 1942: Kurt „macht sich praechtig, läuft bald“. Siebzehn Tage später „läuft [er] drollig“ (17. Juli 1942). Es ist der Tag an dem der erste Viehzug aus Westerbork in Auschwitz eintraf. Sie lieferte 1135 holländische Juden ab, darunter 217 Kinder. Nur acht Männer überlebten und kamen nach Kriegsende zurück.
Am 10. September 1942 – Kurt ist ein Jahr und zwei Monate alt – schreibt seine Mutter, er „läuft selbständig“ und am 14. Oktober bestätigt sein Vater Ludwig, daß er „läuft seit Geburtstag“. Die äußerst kurzen Zeilen, manchmal mehrere Monate getrennt voneinander, bestätigen dennoch dass Kurt sich altersgemäß und normal entwickelt. Er ist ein drolliger Bube der seine ersten Wörter spricht, sitzt, versucht zu stehen... und läuft. Alles zu der Zeit in der es üblich ist. In der hoffnungslosen Misere der Lagerexistenz, ist er der Sonnenschein seiner Eltern.
Es soll gesagt: Die vielen tausenden Juden in Westerbork haben nie gehungert. Es gab Zeiten mit einer knappen Ernährungslage. Das Essen war rundum basisch. Alles stand in starkem Kontrast zu den normalen Lebensbedingungen der Menschen die hier zusammengetrieben waren. Aber Hunger hat es nie gegeben. Lagerkommandant SS-Obersturmführer Albert Gemmeker schickte von Westerbork aus 102.000 Juden in den Tod und war daran interessiert dass es in „seinem“ Lager mit „normalen“ Lebensbedingungen ruhig war. Aus Berlin bekam er jede Woche sein Pensum genannt: die Anzahl Juden die „nach dem Osten“ abzuschieben waren. Wenn jemand erkrankte, hat er ihn im Lagerkrankenhaus behandeln lassen. Das Lagerkrankenhaus war in dieser Zeit das größte und beste Krankenhaus in Holland. Sobald sie geheilt waren, schickte er sie mit dem nächsten Zug zu den Gaskammern von Auschwitz oder Sobibor.
Kurt bekam Aufschub. Im Unterschied zu den holländisch-jüdischen Säuglingen und Kleinkindern wurde er nicht gleich ins Gas geschickt. Seine Eltern gehörten zur ungewollten Führungsschicht des Lagers, die „alten Lagerinsassen“. Die niederländischen Behörden hatten Westerbork 1939 als Flüchtlingslager für deutsche und österreichische Juden errichtet. Die große Anzahl holländischer Juden strömte erst nach dem Frühling 1942 in das Lager, als es schon drei Jahre existierte. Als das Lager sich vom Flüchtlingslager in das Durchgangslager wandelte, hatte sich eine lagerinterne, gesellschaftliche Ordnung gebildet. Die meisten Posten mit Macht und Einfluss (vorbehaltlich Macht und Einfluss!) waren in den Händen deutschsprachiger Juden. Kurts Eltern gehörten zu dieser Schicht. Ihre Beschäftigung (Registratur? Lagerküche? Werkstatt? Krankenhaus?) ist aber unbekannt.
Kommandant Gemmeker brauchte sie, um Holland „Judenfrei“ zu machen. Dafür bekamen sie Aufschub. Die alten Lagerinsassen wurden für erzwungene Kollaboration entlohnt. Ihr Lohn war die Hoffnung auf ein gutes Ende. Zusammen mit seinen Eltern und 2.080 weiteren Lagerinsassen wurde Kurt im letzten Zug nach Theresienstadt abgeschoben. Dieser Zug kam am 6. September 1944 in Theresienstadt an.
Zu dieser Zeit hatte Kurt schon gelernt zu sprechen. Als er acht Monate alt war, hatte seine Mutter ihrer Schwester in Belfast geschrieben, dass Kurt „sagt Mama“ (13. März 1942) und wieder acht Monate später: „sagt Oma, Opa“ (12. November 1942). Kurts eigene Großeltern waren nicht in Westerbork. Es gab aber Zugladungen betagter Menschen und mit manchen wird er geredet haben. Ein wenig später, am 9. Dezember 1942, „spricht [Kurt] alles nach“. Er hatte wohl einen Entwicklungsschub, denn am 7. Januar 1943 schreibt Claere wieder stolz „Kurtchens Fortschritte gut, spricht alles nach“ und am 28. Januar „spricht [er] viel“. Am 2. September berichtet Vater Ludwig: „Kurtchen macht sich sehr; spricht, singt gern; unser Sonnenschein“.
Tante Friedel in Belfast ist wahrscheinlich die einzige Person ausserhalb der Niederlanden gewesen die von Kurts Existenz gewusst hat. Sie hat sein Aufwachsen im Durchgangslager mit Hilfe der kurzen Berichte ihrer Schwester verfolgt. Sie wird sich gefragt haben wie er aussah, denn es ist sehr unwahrscheinlich dass Sie eine Photographie von Kurt bekommen hat – wenn es überhaupt eine gegeben hat. Sie hat sich begnügen müssen mit den wenigen Worten ihrer Schwester und des Schwagers. Am 15. Mai 1943 berichtete Clara „Kurtchen sehr gewachsen, blond, Stupsnäschen, kleiner Frechdachs“ und am 9. Juli, drei Tage nach Kurts Geburtstag, er ist nun zwei Jahre alt, schrieb Ludwig „Kurtchen praechtig gemacht; spielt am liebsten im Freien“. Man kann annehmen, dass er oft auf dem Spielplatz war, als dieser zwei Monate später eröffnet wurde. Den Tag zuvor hatte Ludwig geschrieben Kurt sei „ein rechter Junge“.
Ihren letzten Satz über Kurt schreibt Cläre am 23. September 1943. Es ist das erste und einzige Mal dass sie Kurt mit ihrer drei Jahre jüngeren Schwester in Verbindung bringt: „Kurtchen gedeiht prächtig, lebhaft, schelmisches Kerlchen, unkt wie Du.“
Was Sie wohl gemeint hat?
Der Autor dankt Menachem Löwenhardt in Haifa für die Korrespondenz von Friedel und Klara; und Herrn Raymund Schütz (Niederländisches Rote Kreuz) und dem Englischen Roten Kreuz für Ihre Hilfe. Magdalena Strugholz (Dortmund-Eving) dankt er für ihre Hilfe bei der deutschen Übersetzung.